Unser 9/11 und die Ursachen

Die Aufdeckung der Morde einer rechtsradikalen Truppe, begangen über den Zeitraum einer Dekade, unbehindert von Polizei und Verfassungsschutz – das ist das deutsche 9/11. Während in den USA nach dem 11. September eine Diskussion über intelligence failures einsetzte, die mit dem 9/11 Commission Report ihren offiziellen Abschluss fand, aber noch längst nicht beendet ist, stecken wir erst in den Anfängen. Wie in einer russischen Matrjoschka-Puppe scheint in jedem Aspekt dieses Skandals ein weiterer verborgen zu sein – in der Konsequenz müssen Behördenchefs ihre Sessel räumen, Strukturen und Methoden werden in Frage gestellt, sogar die Sinnhaftigkeit des Verfassungsschutzes als Institution wird ernsthaft diskutiert.

Den staatlichen Organen gelang es über Jahre hinweg nicht, das Morden zu stoppen, und das aus einer ganzen Reihe von Gründen:

  • Am Anfang stand der blinde Fleck: Eine rechtsradikale Motivation der Gewalttaten wurde von der Polizei ausgeschlossen oder nicht einmal in Erwägung gezogen – sie hielt sich statt dessen lieber in ihrer Schublade aus ethnischen Vorurteilen und Vermutungen über Schutzgeldkriminalität auf.
  • Dann wurden offenbar V-Männer angeworben und eingesetzt, die sich in erster Linie als Geldbeschaffer für die Szene sahen und in Folge dessen „Erkenntnisse“ produzierten, die von dauerhaft geringem Nutzen waren.
  • Diese Erkenntnisse wurden offenbar in den einzelnen Behörden so schlampig gespeichert und verschlagwortet, dass noch Monate nach Beginn der öffentlichen Diskussion wichtige Akten aus den Archiven auftauchten, von denen man nicht wusste, dass sie existieren, oder von denen man annahm, dass sie schon vernichtet seien.
  • Darüber hinaus wurden diese Erkenntnisse von den Landesämtern für Verfassungsschutz, von den Landeskriminalämtern, vom BfV, vom BKA, vom MAD um wem auch sonst noch weder gemeinsam ausgewertet noch in irgendeiner Form ausgetauscht, so dass sich die Täter offenbar sicher sein konnten, mit dem Wechsel in ein anderes Bundesland jeweils neu anfangen zu können.

Wer sich grundsätzliche Gedanken über eine Neustrukturierung der Geheimdienste macht, sollte dies auf Basis der US-amerikanischen Debatte zur intelligence reform der letzten zehn Jahre tun. Trotz der Unterschiede hier einige Ausgangspunkte:

  • Michael J. Mazarr weist darauf hin, dass „… the U.S. intelligence community is too focused on clandestine information and gathering facts about the enemy, rather than on broad-based knowledge about the trends and realities that generate the major threats…“. Das war offenbar schon vor 9/11 klar, wenn man sich die Argumentation von Gregory Treverton anschaut – die aber erst Jahre später auch institutionell umgesetzt wurde, um Open Source Intelligence eine größeres Gewicht im Gesamtmix zu geben (oder sogar als ein neues nachrichtendienstliches Paradigma zu etablieren).
  • Wenn es wahr ist, dass sich das Personal der Verfassungsschutzämter aus Postboten und Polizisten Beamten anderer Verwaltungszweige zusammensetzt, die das Handwerk durch training on the job lernen, ohne eine irgendwie formalisierte oder standardisierte Ausbildung z.B. in Intelligence-Analyse zu bekommen, wundert man sich nicht, dass das connecting the dots nicht so recht klappen will. Allein ein kurzer Blick auf die von SCIP veröffentlichte Liste der Universitäten und Institutionen, an denen man in den USA auf universitärem Niveau entsprechendes Wissen aufbauen kann, zeigt, wie groß das Defizit hierzulande ist.
  • Zudem ist der personelle und ideelle Austausch zwischen den Sphären ziviler staatlicher Behörden, der Wirtschaft und dem Militär in Deutschland extrem gering: „Quereinsteigern“ aus der Wirtschaft ist es nach Angaben des Chefs der deutschen Wirtschaftsspionageabwehr beim BfV unmöglich, beim Verfassungsschutz zu arbeiten und damit aktuelle Ansätze z.B. aus der Praxis der Open Source Intelligence mitzubringen.

Für eine effektivere Gefahrenabwehr sollten wir versuchen, eine echte intelligence community zu etablieren, die Standards in der Ausbildung, bei der Informationsbeschaffung und der Intelligence-Analyse entwickelt und befolgt. Im Moment sind wir noch sehr weit davon entfernt.

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